Von Trauer und Transformation
Tristesse hängt über dem Land. Der Himmel ist grau geworden, der Regen fällt unablässig auf die letzten bunten Blätter. Die Hoffnung, dass sich das Blatt zum Guten wenden würde, sie hat sich nicht erfüllt. Die Ereignisse der letzten Woche, die Wiederwahl von Trump, der Zerfall der Bundesregierung haben sich in unser Leben eingeschrieben, werden unseren Lebenslauf in den nächsten Jahren bestimmen.
Damit umzugehen ist nicht einfach. Nach dem ersten Schock kam das Aufbäumen, der Widerstand in der Verzweiflung. In den sozialen Medien posteten die Menschen Durchhaltesprüche, es ging viel um Resilienz und “jetzt erst recht”.
Das ist alles wichtig und ich glaube, wir dürfen langsamer und liebevoller mit uns sein.
Was meine ich damit?
Wenn etwas unsere Welt zutiefst erschüttert (mich hat es das und vielleicht trifft es ja auch auf dich zu.), dann ist es gut innezuhalten und nicht gleich in die Abwehr/ in den Widerstand zu gehen.
Lass deinen Gefühlen Zeit. Und habe keine Angst, wenn die erste Reaktion Trauer ist.
Trauer ist ein Gefühl, das viele von uns nicht gut zulassen können. Das liegt nicht nur an uns, sondern auch an der Prägung, die wir durch die Gesellschaft erfahren haben.
Über die Unfähigkeit der deutschen Gesellschaft zu trauern, ist viel geschrieben worden: Zuerst 1967 von Margarete und Alexander Mitscherlich, zuletzt von der Trauerbegleiterin Tobi Ayé in ihrem Blogpost “A society that doesn’t grieve looks like Germany”. Ayé beschreibt die deutsche Gesellschaft als eine, die sich an Resilienz und Effizienz orientiert und dabei die emotionalen Prozesse übergeht.
“Der kulturelle Fokus liegt darauf, in die Zukunft zu blicken und längere Trauerphasen zu vermeiden. Auf den ersten Blick mag das als Stärke erscheinen, aber unter der Oberfläche gärt die unverarbeitete Trauer. Sie wird unsichtbar, ist aber überall spürbar: beim Burnout, in der Einsamkeit und in der Unverbundenheit, die soziale Interaktionen kennzeichnet.”
Tobi Ayé
(aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Blum)
Wie geht es dir damit, wenn du das liest? Was ist deine erste Reaktion?
Ob du diese Unverbundenheit spürst oder nicht, ich möchte dich einladen, der Trauer Raum zu geben.
Es ist momentan auch die richtige Zeit dafür. Traditionell ist der November der Monat, in dem der Toten gedacht wird. Anfang des Monats waren Allerheiligen und Allerseelen, die katholischen Totengedenktage, am nächsten Sonntag ist Volkstrauertag. Der Volkstrauertag wird seit 1952 im November gefeiert, er gilt dem Gedenken aller in den Weltkriegen getöteten Menschen (ursprünglich war er mal sehr viel nationalistischer angelegt, im Dritten Reich wurde er als Heldengedenktag gefeiert).
Eine Woche danach ist Totensonntag, auch Ewigkeitssonntag genant, das Totengedenken der evangelischen Kirche. Der Totensonntag wurde 1816 in Preußen eingeführt, die Gründe dafür waren vermutlich die Trauer um die vielen Toten der Kriege gegen die Vorherrschaft Napoleons über Europa.
Diese Gedenktage klingen altmodisch und auch ein wenig seltsam, wie aus einer anderen Zeit. Vielleicht verbindest du ja auch gar nichts damit. Das ist auch okay.
Dennoch: Vielleicht geben sie dir den Raum, deine Trauer zu zu lassen? Das muss gar nicht die Trauer um einen geliebten Menschen sein, es kann auch die Trauer um nicht gelebte Lebensentwürfe, um Projekte, die nicht an den Start gegangen sind, um Hoffnungen, die sich nicht erfüllt haben. Um die Ungerechtigkeiten in der Welt, die Tierarten, die jeden Tag aussterben, die Kinder, die unter Kriegen leiden.
All das und noch viel mehr ist Anlass zu trauern. Und die jetzige Zeit lädt uns dazu ein. Dazu musst du nicht zu einer Kranzniederlegung gehen oder zu einem Gottesdienst - ganz im Gegenteil, meistens ist der öffentlicher Raum nicht sicher genug, um unseren Gefühlen freien Lauf zu lassen (und wie schön wäre es, wenn genau das wieder passieren würde?)
Es reicht, wenn du dir Zeit nimmst, dir einen sicheren Raum gestaltest und eine Kerze oder ein Feuer anzündest. Verbringe Zeit mit der Flamme und spür in dich hinein.
Was ist jetzt gerade da und will betrauert und verabschiedet werden?
Lass dir Zeit dafür. Alle Emotionen dürfen da sein.
Wenn alles gesagt ist, beende dieses kleine Ritual, in dem du dich beim Feuer (bzw. der Kerze bedankst) und sie wieder ausbläst.
Das klingt einfach und ist es auch. Alles, was es braucht, ist deine Intention. Je öfter du das machst, desto mehr kann sich deine Trauer transformieren. Es ist also gut, sich für das Trauern Zeit zu nehmen.
Gesellschaftlich geschieht dies trotz aller offiziellen Gedenktage kaum, ganz im Gegenteil die Tendenz geht dahin, schon den November möglichst licht zu gestalten. Die ersten Adventsmärkte finden bereits Mitte November statt, in den Bibliotheken liegen die Weihnachtsbücher aus, alle Zeichen stehen auf Konsum und Ablenkung. Da fällt es immer schwerer, sich den Raum für schwierige Gefühle zu nehmen.
Und ich mag dich dazu einladen. Denn wir brauchen eine Gesellschaft, die sich auf den Weg der Transformation macht. Dafür zählt jeder kleiner Schritt, jeden Tag.
Ich danke dir.
Herzlich,
Kathrin